KI-System Aeneas entschlüsselt alte lateinische Inschriften für Historiker
Generative künstliche Intelligenz, oft als Zukunftstechnologie gepriesen, erweist sich nun als maßgeblich, um unser Verständnis der Vergangenheit zu vertiefen. Ein bahnbrechendes neues maschinelles Lernsystem, entwickelt von Computerwissenschaftlern bei Google DeepMind in Zusammenarbeit mit Klassizisten und Archäologen von Universitäten in Großbritannien und Griechenland, wird die Art und Weise revolutionieren, wie Experten alte lateinische Inschriften interpretieren.
Benannt nach Aeneas, dem mythischen Helden, der im Mittelpunkt des Gründungsmythos Roms steht, ist dieses ausgeklügelte System ein generatives neuronales Netzwerk, das entscheidenden Kontext für lateinische Inschriften aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr. liefern soll. Wie die Forscher in Nature detailliert darlegen, zeichnet sich Aeneas durch das Auffinden textlicher und kontextueller Parallelen, die Integration visueller Details von Inschriften und sogar die Generierung spekulativer Texte aus, um fehlende Lücken in fragmentierten historischen Aufzeichnungen zu füllen. Diese Fähigkeiten bieten Epigraphikern – Wissenschaftlern, die sich dem Studium von Inschriften widmen – erhebliche Vorteile, da sie oft vor der mühsamen Aufgabe stehen, unvollständige Artefakte zu interpretieren und zu datieren.
Um die Wirksamkeit von Aeneas zu beurteilen, beteiligte das Entwicklungsteam 23 epigraphische Experten, von Masterstudenten bis zu erfahrenen Professoren, an einer experimentellen Simulation realer Forschungsworkflows unter Zeitdruck. Die Ergebnisse waren überzeugend: In 90 % der Fälle fanden Historiker die von Aeneas abgerufenen Parallelen als äußerst nützliche Ausgangspunkte für ihre Untersuchungen. Darüber hinaus steigerte das System ihr Vertrauen in kritischen Aufgaben um beeindruckende 44 %. Bei der Wiederherstellung teilweiser Inschriften und der Bestimmung ihres geografischen Ursprungs übertrafen Historiker, die Aeneas nutzten, sowohl allein arbeitende menschliche Experten als auch isoliert agierende künstliche Intelligenz. Bei der Schätzung des Alters von Inschriften erreichte Aeneas eine bemerkenswerte Genauigkeit, wobei seine Vorhersagen im Durchschnitt innerhalb von 13 Jahren der bekannten historischen Daten lagen. Während seine Leistung variiert und sich in Perioden und Regionen mit den reichhaltigsten und genauest datierten historischen Beweisen als am effektivsten erweist, lobten die Teilnehmer die einzigartige Fähigkeit von Aeneas, Suchen zu erweitern und signifikante, aber zuvor übersehene Parallelen und Textmerkmale aufzudecken. Gleichzeitig half es ihnen, ihre Ergebnisse zu verfeinern und allzu enge oder irrelevante Schlussfolgerungen zu vermeiden.
Die Epigraphik ist ein notorisch anspruchsvolles Feld, das jahrelange spezialisierte Expertise erfordert und oft auf bestimmte Regionen oder Zeiträume beschränkt ist. Aeneas verspricht, die Phase der Voranalyse der Forschung dramatisch zu beschleunigen. Es kann schnell riesige, komplexe Beweismengen durchsuchen, um potenzielle Parallelen oder ähnliche Texte zu identifizieren, die ein menschlicher Forscher bei fragmentarischem Material leicht übersehen könnte. Über die Textanalyse hinaus kann Aeneas auch bei der geografischen Lokalisierung einer Inschrift und der Schätzung ihrer Entstehungszeit helfen. Die Fähigkeit des Systems, fehlende Teile eines fragmentierten Textes vorherzusagen, selbst wenn die Länge des verlorenen Teils unbekannt ist, mag seine aufregendste Funktion erscheinen. Diese Funktion, ähnlich der spekulativen Restaurierung durch eine menschliche Autorität, birgt jedoch das gleiche Risiko, unvorsichtige Gelehrte zu potenziell unsicheren Schlussfolgerungen zu führen.
Es ist entscheidend zu verstehen, was Aeneas, wie alle generativen KI-Produkte bisher, nicht kann: die eigentliche Forschung durchführen. Das Entwicklungsteam ist diesbezüglich transparent und betont, dass der Hauptwert des Systems darin liegt, „nützliche Forschungsansatzpunkte“ zu liefern. Dieses Werkzeug negiert nicht die grundlegende Notwendigkeit für Wissenschaftler, die extrahierten Daten rigoros anhand von Standardreferenzen, Bildern oder, idealerweise, den Originalartefakten selbst zu überprüfen. Forscher mit entsprechender Expertise werden weiterhin unverzichtbar sein, um die Ergebnisse zu interpretieren. Was Aeneas grundlegend verändert, ist der machbare Umfang ihrer Arbeit, der eine viel breitere Sicht auf Parallelen ermöglicht – insbesondere durch seine Fähigkeit, visuelle Hinweise zu integrieren – als mit zuvor verfügbaren Werkzeugen. Seine schnellen Abruffähigkeiten werden Wissenschaftler viel schneller zu ihren Forschungsansatzpunkten bringen, was Epigraphikern potenziell breitere Horizonte eröffnet und es ihnen ermöglicht, die traditionellen Einschränkungen spezifischer geografischer Regionen oder historischer Perioden zu überwinden.